Mittwoch, 21. November 2012

Die Mähr vom Homo Oeconomicus

Lange Zeit wollten wir nicht glauben, dass der unbewusste Teil des Gehirns und damit unsere Emotionen fast alle unsere Entscheidungen treffen. Trotz objektiver Sachlage wollen viele Menschen noch immer nicht glauben, dass ihre Emotionen den Ton angeben, schließlich galten und gelten Emotionen als störendes Beiwerk im rational dominierten Menschen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass eine Dominanz der als animalisch geltenden Instinkte vielen Zeitgenossen noch immer den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Generationen von Wirtschaftswissenschaftern stellten deshalb den rational agierenden Menschen in den Mittelpunkt ihrer vielfältigen Theorien. Der Homo Oeconomicus, der rational alle Vor- und Nachteile abwägt und dann die beste Lösung favorisiert, war über Jahrzehnte das Bild vom zivilisierten Menschen. Doch in den letzten 10 Jahren hat sich die Sicht auf den Menschen radikal gewandelt. Nicht zuletzt deshalb, weil die Hirnforschung mit ihren immer besseren Methoden nach und nach das Bild vom Homo Oeconomicus bröckeln ließ.

Mit fMRT dem Gehirn beim Denken zusehen

Neue Technologien, allen voran die funktionelle Magnetresonanztomographie, gewährten Wissenschaftlern ganz neue Einsichten ins Hirn. Was primär für medizinische Zwecke entwickelt wurde, wird zunehmend auch für das Marketing genutzt und hat mit dem Neuromarketing ein ganz neues Forschungsfeld hervorgebracht. Während wir uns bunte Bilder von hochkarätigen Marken oder No-Name-Produkten ansehen, verfolgen Wissenschaftler auf dem Bildschirm was dabei in unseren Köpfen vorgeht. Zwar lassen sich unsere Gedanken noch nicht lesen, doch welche Gehirnareale beteiligt sind wenn wir attraktive Marken wiedererkennen und wie diese unsere Denkprozesse entlasten, klärt der funktionelle Kernspintomograph nach und nach auf. Mittels fMRT können wir dem Hirn quasi beim Denken zusehen, welche Areale feuern gemeinsam, wie viel Energie wird dabei verbraucht und mit welcher Geschwindigkeit laufen alle diese Prozesse ab. Was eine starke Marke ausmacht und was bei der Erkennung im Gehirn passiert, das wissen wir heute ziemlich genau. Aus diesem Grunde macht es das Neuromarketing auch möglich, mit den richtigen Signalen die richtigen Botschaften zu kommunizieren und sich damit von ähnlichen Produkten deutlich abzuheben. Abheben, also anders sein als die Konkurrenz, das ist in Zeiten zunehmender Homogenität von Produkten das A und O für ein erfolgreiches Produkt.

Signale starker Marken

Was macht eine starke Marke aus, was geschieht im Gehirn wenn wir die Signale starker Marken wahrnehmen und vor allem weshalb sind starke Marken herkömmlichen Produkten so drastisch überlegen. Dass immer mehr Produkte den täglichen Kampf um Aufmerksamkeit verlieren wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, dass Werbung nur implizit wirkt. Schöne Bilder alleine genügen leider nicht um dauerhaft Aufmerksamkeit zu erzielen und auch die Werbung mit rein physischen und rationalen Eigenschaften genügt nicht um Präferenz bei Kunden zu werden. Authentische Differenzierung unter Nutzung der neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft heißt der Schlüssel zu dauerhaftem Erfolg und mehr loyalen Kunden.

Neuromarketing ist mehr als ein Trend

Der Siegeszug des Neuromarketings begann mit Daniel Kahnemann, der für seine bahnbrechenden Erkenntnisse wie Menschen entscheiden im Jahr 2002 als erster Psychologe den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Dass Neuromarketing weit mehr als ein Trend ist zeigt sich auch daran, dass von den letzten 15 Nobelpreisen elf an Neurowissenschaftler gingen. Noch 2003 ergab eine Internetsuche nach „Neuromarketing“ null Hits, 2009 spuckte Google bereits 800K Ergebnisse aus. Die Wichtigkeit des Themas zeigt sich auch an den Forschungsinvestitionen, alleine die Amerikaner pumpten zwischen 1990 und 2000 rund eine Milliarde USD in die Hirnforschung. Was wir lange nicht wahrhaben wollten und weit von uns wiesen ist heute wissenschaftlich belegt, auch wenn Viele noch immer glauben sie würden ihre Entscheidungen vollkommen rational und frei von störenden Emotionen treffen. Doch der Homo Oeconomicus hat ausgedient, unsere Entscheidungen werden primär durch unbewusste Strukturen auf Basis fester Muster, unseres Kulturspeichers und des Belohnungszentrums im Gehirn getroffen. Der Einwand, dass dies doch lediglich für den Consumer-Bereich gelte, ist schon lange widerlegt. Gerade bei komplexen Entscheidungen sind die denkenden Hirnstrukturen schnell überfordert, so dass Mustererkennung und Imprints im Gehirn zu deutlich valideren Entscheidungen beitragen. Nicht umsonst machen wir unser ganzes Leben lang Erfahrungen, die unser Gehirn für die Einordnung von Informationen und für Entscheidungen jeglicher Komplexität verwendet.

Nichts ist anstrengender als Denken

Da nichts so anstrengend ist wie Denken, könnten wir die nötige Energie für primär rationale Entscheidungen nie bereitstellen. Würden wir die rund 11 Millionen Bit die pro Sekunde in unser Gehirn strömen tatsächlich rational verarbeiten, bräuchten wir nicht nur unendliche Energiemengen sondern wären auch unendlich langsam. Nur unbewusste Entscheidungen ermöglichen uns Wichtiges innerhalb kürzester Zeit von Unwichtigem zu trennen. Evolutionär machen automatisierte Entscheidungen Sinn, denn dem Individuum geht es primär um zwei Dinge, Überleben und Fortpflanzung. Wären wir komplett rationale Wesen, hätten wir im Selektionsprozess der Evolution, wo schnelle Entscheidungen über Leben und Tod entscheiden konnten, nicht lange überlebt. Erst durch die automatisierte und damit extrem schnelle Informationsverarbeitung konnte die Spezies Mensch zum erfolgreichsten Lebewesen aller Arten aufsteigen. Was uns früher das Leben gekostet hätte, nämlich primär bewusst zu entscheiden, würde uns heute im Zuge der Informationsflut handlungsunfähig machen.

Die Wissenschaft widerlegt den rationalen Menschen

Die wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema sind gigantisch und sie alle zeigen, was auch William J. Cusick in seinem lesenswerten Buch „All customers are irrational“ so eindrucksvoll beschreibt, bis zu 95 % aller Entscheidungen werden vom Autopiloten in unserem Kopf getroffen und der ist nun einmal hochgradig emotional. Eine Entscheidung ohne die Amygdala, die einzig und allein die Frage interessiert „Ist es positiv oder negativ?“, ist nicht möglich. Die Amygdala nimmt anatomisch wie funktional die entscheidende Rolle bei der Produktion und Steuerung von Emotionen ein. Sie wird als das Zentrum der furcht- und angstgeleiteten Verhaltensbewertung angesehen und diente unseren Vorfahren zum Überleben. Auch heute noch achtet die Amygdala darauf, dass wir möglichst nur das tun, was und Glücksmomente und damit Belohnungen durch die Ausschüttung von Glückshormonen beschert. Die Ausschüttung endogener Endorphine gehört zu den wichtigsten Zielen des menschlichen Gehirns. Großen Beitrag zum Verständnis dieser unbewussten Hirnstrukturen hat der renommierte Neurowissenschaftler Joseph LeDoux, Professor am Center for Neural Sciece der New York University, geleistet. In seinem herausragenden Buch „Das Netz der Gefühle – Wie Emotionen entstehen“ geht LeDoux den Fragen auf den Grund wie Gefühle unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gedanken beeinflussen.

In jahrelangen Versuchen hat LeDoux erforscht wie Emotionen entstehen und wie sie uns steuern. Sein Fazit, ein wichtiger Antrieb im menschlichen Gehirn sind Belohnungen die in Form von Glückshormonen unsere Entscheidungen stets in eine bestimmte Richtung lenken. Auch wenn wir glauben wir würden rational entscheiden, tun wir es nie. Gelangt eine Entscheidung in unser Bewusstsein und lässt uns glauben, dass wir diese frei und rational getroffen hätten, so wurde diese in den unbewussten Hirnregionen auf Grund von Mustererkennung, Erlebtem, unserer Kultur und der damit einhergehenden Belohnung bereits entschieden. Was wir als freie Entscheidung wahrnehmen, ist lediglich das Endergebnis dieses unbewussten Prozesses im Gehirn. Unser Bewusstsein dient lediglich der Rechtfertigung dieser Entscheidungen, hierzu hat Michael S. Gazzaniga in seinem Buch „Who’s In Charge?“ bahnbrechende Erkenntnisse aus vielen Jahren Forschung publiziert. Auch Michael S. Gazzaniga untermauert die Fakten zum irrationalen Konsumenten, die er in jahrlangen Untersuchungen seiner Patienten dokumentiert hat. Natürlich können wir uns auch gegen diese Entscheidung stellen, doch dies erfordert aktives Denken und damit sehr viel Energie. Unser Gehirn, das auf Energieeffizienz getrimmt ist, wird deshalb nur in extrem wichtigen Fällen seinen aktiven Denkprozess starten. Und selbst dann noch trauen wir oftmals unserem Unbewussten, dass sich als das wohlbekannte Bauchgefühl bemerkbar macht. Doch weshalb sollte das Gehirn auch anders arbeiten als der Rest unseres Körpers, der ja weitgehend autonom ist. Ob Verdauung, Atmung, Herzschlag, Körpertemperatur oder Immunsystem, alle diese Regelkreise arbeiten völlig unabhängig von unserem Willen und ohne dass wir daran auch nur einen Gedanken verschwenden müssen.

Ohne Frame keine Marke

Im Hinblick auf das Marketing und die Werbung hat uns die Hirnforschung vier wichtige Einsichten beschert die wir für die Kommunikation mit unseren Kunden nutzen können. Eines ist klar, wer den täglichen Kampf um Aufmerksamkeit nicht verlieren möchte, der sollte sich das Neuromarketing bei seinen Kommunikationskonzepten zu Nutze machen. Und noch eine ausgezeichnete Nachricht haben wir zu verkünden „Werbung wirkt – aber leider nur implizit“. Dies bedeutet, wenn es einem Produkt nicht gelingt durch geeignete Signale mit dem unbewussten Autopiloten zu kommunizieren, ist sein Marketingbudget reine Verschwendung. Doch welche Einsichten müssen nun für ein erfolgreiches Marketing berücksichtigt werden. Wie gehen wir vor, wenn wir erfolgreich mit den Entscheidungsstrukturen kommunizieren wollen, welche Sprache und welche Signale sind erfolgreich. Erstens, der Autopilot im Gehirn färbt jede Entscheidung emotional und entscheidet innerhalb von Sekundenbruchteilen. Also, müssen wir ihm Signale anbieten die er kennt und die er extrem schnell verarbeiten kann, wir müssen also den Kulturspeicher unserer Zielgruppe kennen und anzapfen. Laut renommierten Forschern der Harvard University werden 95 % der Kommunikation nebenbei, also unbewusst aufgenommen und verarbeitet. Erst wenn wir in dieser Informationsflut Signale entdecken, die mit unseren ganz persönlichen Zielen, unseren Vorstellungen und unserem Selbstbild in Einklang stehen, werden wir uns einer bestimmten Information bewusst. Dabei müssen wir uns dies so vorstellen, dass der Autopilot innerhalb von Sekundenbruchteilen alle Informationen auf für ihn bekannte Muster untersucht, dies geschieht den ganzen Tag, ohne dass es uns bewusst wird.

Entdeckt der Autopilot ein für ihn lohnendes Muster, schickt er dieses in unser Bewusstsein, wir werden interessiert und wollen mehr darüber wissen. Fehlen allerdings belohnende Signale, geht alles rasant schnell an uns vorüber und wir werden uns nie an ein solches beliebig austauschbares Produkt erinnern. Wollen wir mit unserem Produkt also das Interesse einer Zielgruppe wecken, so müssen wir relevante Signale in den Hintergrund unseres Produktes einbauen. Verabschieden Sie sich deshalb lieber gleich davon, Werbung für Alle zu machen. Werbung für Alle heißt Werbung für Niemanden zu machen. Da wir damit Niemanden richtig Ansprechen, werden wir auch keine Aufmerksamkeit erregen. Und keine Aufmerksamkeit heißt kurz gesagt kein Konsum. Diese Art von Werbung verpufft wirkungslos und ist reine Geldverschwendung. Der wichtigste Punkt im Neuromarketing ist die Tatsache, dass wir Werbung an die Prozesse im Gehirn anpassen müssen, nur so können wir Marken generieren, die Preisaufschläge rechtfertigen und uns loyale Kunden bescheren. Nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung muss eine effiziente Werbestrategie zwei Dinge bedienen – das explizit wirkende Markenimage und den nur implizit wirkenden Markenkern, den wir auch Frame nennen. Produkte, die nur mit dem Markenimage, also den physischen Eigenschaften des Produktes werben, und keinen Frame besitzen, sind beliebig austauschbar und wenn überhaupt, dann nur über den Preis zu differenzieren.

Weshalb sollte ein Kunde aus einer Schar ähnlicher Produkte ein ganz bestimmtes Produkt wählen, wenn ihm dieses keinen fiktiven Mehrwert bietet. Aus Sicht des Gehirns ist die Wahl eines bestimmten Produktes rein zufällig, denn unser Gehirn kennt nur Vergleiche. Findet es bei seinen ständigen Vergleichen keine relevanten Unterschiede, so wird es bei Bedarf den Zufall entscheiden lassen. Wer also den Pseudocharakter seines Marketingbudgets endlich ablegen möchte, der muss anfangen die Strukturen des Hirns für sich zu nutzen. Erst wenn unser Gehirn in einem Frame, also im Hintergrund zu einem Produkt einen fiktiven Mehrwert erkennt gibt es einen signifikanten Unterschied. Je belohnender dieser fiktive Mehrwert für das Gehirn der Zielgruppe desto mehr Differenzierung erhält ein Produkt gegenüber Ähnlichem. Dabei ist extrem wichtig, die Codes zu verwenden, die auch das unbewusste Gehirn nutzt und die es einfach und schnell dekodieren kann. Physische Eigenschaften wie Qualität oder Leistung sprechen nur den Piloten an, der Autopilot kann mit diesen Dingen nichts anfangen, weshalb Sie sich damit auch nicht differenzieren können. Sich abheben und zu einer Marke werden können Sie nur, wenn Sie es verstehen effizient mit dem Autopiloten zu kommunizieren. Was für das Bewusstsein oftmals lächerlich und wenig authentisch klingt, darauf spricht das emotionale Gehirn ganz intuitiv an. Über Mustererkennung und Kulturspeicher werden entsprechende Signale innerhalb kürzester Zeit dekodiert und mit der potenziellen Belohnung verknüpft. Finden Sie also die richtigen Codes für Ihr Produkt, dann reichen die ca. 2 Sekunden Werbemittelkontaktzeit leicht aus, um die Signale zu entschlüsseln und so in das Bewusstsein der Zielgruppe zu springen. Da Marken Denkprozesse entlasten kommen sie der Funktionsweise des Gehirns, das nach Automatisierung und Energieeinsparung strebt, entgegen.

Beispiel einer neurowirksamen Werbung

Ein kleines Beispiel aus der Werbung eines großen Unternehmens soll das Konzept verdeutlichen. Was würden Sie von einer Werbung halten, die den Slogan nutzt „Dieser Mixer macht Sie mächtig und hebt Sie von anderen Individuen ab“. Exakt, Sie würden sich fragen was dieser Käse soll! Und warum würden Sie sich das Fragen? Ganz einfach, weil der Slogan unsere rationalen Denkstrukturen auf den Plan ruft, diese sind kritisch und hinterfragen solche Dinge. Wenn wir Macht und Abgrenzung mit einem Produkt kommunizieren wollen und den Kunden wissen lassen möchten, dass ein bestimmter Mixer nur für echte Kochprofis gedacht ist, die auch in der Küche Macht und Abgrenzung schätzen, weil es ihrem limbischen Profil entgegen kommt, dann müssen wir es ganz anders anstellen. Wir würden die Farbe schwarz als Hintergrund verwenden, da der Autopilot damit Macht und Status verbindet. Die Farbe Schwarz war und ist die Farbe der Mächtigen. In unserer Werbung befindet sich auch eine weiße Flüssigkeit, die sich dynamisch ausbreitet und fast wie der Urknall aussieht. Dass es sich dabei um Milch handeln muss, geht aus dem Kontext hervor und wird vom Impliziten rasend schnell entschlüsselt. Der Slogan „Why cook, when you can create“ bestätigt dem Autopiloten, dass er sich mit diesem Mixer tatsächlich abhebt, da er Mahlzeiten erschafft, anstelle sie zu kochen.

Der Slogan korreliert also mit der Aussage des Bildes und unterstützt dieses noch. Die gesamte Werbung ist auf eine Zielgruppe ausgerichtet, für die Macht, Status und Abgrenzung von der Masse auch in der Küche von Bedeutung ist. Unser implizites Gehirn kann alle diese Signale innerhalb kürzester Zeit decodieren und den Belohnungswert für Macht, Status und Abgrenzung errechnen, der für bestimmte limbische Profile sehr hoch ist. Die Werbung wirkt rein implizit und war deshalb auch extrem erfolgreich. Sobald wir uns auf den Versuch einlassen den Piloten anzusprechen, werden wir in der Zufallsschublade landen. Dann hinterfragt der Pilot kritisch was ihm wenig authentisch klingt, wir müssen denken, was Energie und Zeit kostet und uns meist gar nichts konsumieren lässt. Ergo, nur implizite Werbung führt zu Entstehung von differenzierenden Marken, die schnelle Entscheidungen zulassen und mit großen Belohnungswerten korreliert sind. Diese hohen Belohnungswerte, ausgelöst durch einen großen fiktiven Mehrwert für das Unbewusste, sind es dann auch, die bei Marken wie Apple oder Nike extreme Preisaufschläge möglich machen und Kunden zu Fans werden lassen.












Das Märchen vom Fachkräftemangel – Teil 2


Der Selbstversuch – ein Desaster

Meine erste Erfahrung in diesem Selbstversuch ließ nichts Gutes ahnen, dabei begann mein Bewerbungsmarathon so vielversprechend – mit einer Einladung zum Vorstellungsgespräch. Ich hatte mich auf einen 400 Euro-Job bei einem Verein beworben, als Leiterin der Geschäftsstelle, man höre und staune, für 400 Euro. Angekommen, wurde mir in einem kleinen Büro eine Tasse Kaffee angeboten und dann ging die Fragerei schon los, Fragen, als würde ich mich für den Vorstandsposten eines Industriegiganten bewerben. Wegen 400 Euro im Monat rückte ein ganzes Bataillon an Interviewern an deren Fragen auch vor privaten Dingen nicht halt machten. Natürlich bekam ich einige Tage später die bereits erwartete Absage und sie werden es kaum glauben, eine Woche später ein Angebot mich doch unentgeltlich einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Verein zu widmen. Den Verzweifelten kostenlose Arbeit anbieten und vielleicht auch noch um eine kleine Spende bitten, irgendetwas läuft falsch in diesem, unserem Lande. Doch von einem Fehlschlag lasse ich mir nicht meinen Optimismus verderben. Also schrieb ich weiter fleißig meine Bewerbungen, wobei ich mich nur auf optimal zu meiner Qualifikation passende Stellen bewarb. Nach einigen Wochen konnte ich bestätigen was auch meine Befragten kommuniziert hatten, 50 Prozent meiner Bewerbungen blieben unbeantwortet.

Wut und Frust durch Absagen

Obwohl ich nicht wirklich arbeitssuchend war, frustrierte mich dieses Verhalten mehr und mehr. Natürlich fragte ich auch dann und wann nach, vielfach blieben auch diese Emails unbeantwortet. Da ich mich nun täglich auf Jobbörsen herumtrieb, sah ich natürlich auch, was ich schon von vielen Befragten gehört hatte, erneute Stellenausschreibung vermeintlich besetzter Vakanzen. Meine Laune wurde durch diese Recherchen nicht gerade besser, wenn dies so weiterging, müsste ich mich bald erneut für die gleichen Positionen bewerben. Ich konnte die Betroffenen gut verstehen, schließlich verlangt das Arbeitsamt Eigeninitiative und das bedeutet Minimum drei Bewerbungen je Woche zu verfassen. Fragt sich nur an wen, wenn man bereits überall abgelehnt wurde. Doch ich gab nicht auf, weiter schrieb ich fleißig meine sauber ausgearbeiteten Bewerbungen, obwohl mich das Ganze schon ziemlich nervte. Natürlich hagelte es auch viele Absagen, was mich langsam zu ängstigen begann. Was, wenn ich irgendwann einmal tatsächlich auf Arbeitssuche wäre, es sah in meinem Alter nicht gerade rosig aus, das wurde mir schlagartig klar als ich nach 6 Monaten vor meiner Auswertung saß. Mein Studium schien Niemanden wirklich zu interessieren, viel wichtiger war da schon, welche Gehaltsvorstellungen ich hatte.  Natürlich konnte ich bei den Gehaltsvorstellungen, zumindest zum gegebenen Zeitpunkt, noch nicht mit den verzweifelt nach Arbeit Suchenden mithalten.

Sie haben nicht die „interlektuelle Befähihgung“

Ich musste bei den vielen Absagen, die sich in meinem Email Postfach häuften, also meine Strategie ändern. Gehaltsvorstellungen runter und auf weniger qualifizierte Jobs bewerben hieß nun meine Devise. Doch auch hiermit schien ich nicht wirklich erfolgreich zu sein. Selbstbewusstsein und Überqualifikation kamen bei weniger gebildeten Vorgesetzten nicht wirklich gut an. Langsam war ich am verzweifeln. Die wenigen Vorstellungsgespräche die ich in den letzten Monaten hatte, waren eine echte Niederlage für einen vom Erfolg verwöhnten Menschen wie mich. Hinzu kam, die Absagen waren so langweilig, dass es mir beim Lesen die Schuhe auszog. Also zurück zur Qualifikation und prompt kam ein aussichtsreiches Vorstellungsgespräch. Nach rund acht Wochen die Antwort – man hatte sich leider gegen mich entschieden. Weitere 3 Wochen später, die gleiche Vakanz erneut inseriert, ich konnte es kaum fassen, war enttäuscht und fragte höflich nach den Gründen für die Absage. Die Antwort möchte ich ihnen nicht vorenthalten, liebe Leser, denn sie sagt einiges aus über die soziale und emotionale Intelligenz in den Führungsetagen deutscher Unternehmen. Ich habe nichts am Wortlaut geändert. Interessant finde ich, dass mir hier Jemand meine intellektuellen Fähigkeiten absprechen will, der selbst nicht einmal in der Lage ist dieses Wort korrekt zu buchstabieren. Ich denke diese Email Bedarf keines Kommentars.

Sehr geehrte Frau X,

schon diese email Zeug davon, dass Sie für eine solche Stelle nicht geeignet sind!!!

Wenn Sie es gerne hören wollen, Sie sind weder von der Persönlichkeit noch von der Qualifikation für diese Stelle geeignet. Da Sie weder Farbig, noch Ausländer sind und die Stelle mit Frau Dr. M. mit einer Frau besetzt wurde, fällt auch das Argument einer Diskriminierung weg. Es steht Ihnen kein Urteil zu, ob und wie häufig wir eine Stelle zu besetzen haben, da SIe weder die Erfahrung noch scheinbar die interlektuelle Befähihgung dazu haben.

Dr. Thomas F.

Fazit – Qualifikation und Selbstbewusstsein, eine tödliche Kombination

Dies war dann auch das Ende meines kleinen Selbstversuchs, länger hätte ich das auch nicht mehr ausgehalten. Abschließend lässt sich sagen, dass ein Mangel an Qualifikation so gut wie nie der Grund für eine Absage ist, häufig ist es eher ein Zuviel an Wissen und Expertise, das einen Kandidaten ausscheiden lässt. Die Gründe liegen wie immer wenn es um Menschen, Gruppen und Egos geht, viel tiefer und hängen ganz vom Individuum und dessen Selbstsicht ab. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass sich Menschen bereits innerhalb von drei Sekunden für Sympathie oder Antipathie entscheiden und dass dabei auch ihre persönliche Expertise, ihr eigenes Wissen und ihre ganz persönliche Wertschätzung eine Rolle spielt. Lasse ich sämtliche Ereignisse Revue passieren, kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass Alter in einer Kombination mit Qualifikation, Selbstbewusstsein und einem umfangreichen Wissen ein großer Risikofaktor für ein Versagen am Arbeitsmarkt ist. Hier dürfte wohl das größte Problem arbeitsloser Hochqualifizierter liegen. 

Das Märchen vom Fachkräftemangel – ein Selbstversuch


Es war einmal ..... die Geschichte vom aussortierten Arbeitnehmer

Liebe Leser, ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die Geschichte von der Arbeitssuche über 40, vom Fachkräftemangel, von einem Land, das sich seines Wirtschaftswachstums rühmt und dabei einen Teil der Gesellschaft einfach ignoriert, aussortiert und vergisst. Die Rede ist von Deutschland, das sich gerade wieder einmal anmaßt eine Vormachtstellung in Europa einzunehmen und dabei vor lauter Lobgesang auf seine Industrie, die Menschen im eigenen Land und im Rest Europas vergisst. Die Schlagworte von den Faulen, ob Griechen oder Arbeitslose, sind gleichzeitig Schläge ins Gesicht der Menschen, deren Leben ein täglicher Kampf ist, ein Kampf um Arbeit, um Anerkennung und um finanzielle Freiheit. Haben nicht alle Menschen ein Recht auf Freiheit und wenn ja, weswegen verwehren wir dieses so wichtige Gut immer mehr Menschen, indem wir sie an den Rand der Gesellschaft schieben, indem wir ihnen würdige Arbeit und damit den letzten Funken Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Freiheit rauben. Wir sollen bitte künftig bis zum Tode arbeiten, nicht nur die Deutschen, nein, auch die Griechen, vor allem die Griechen, schließlich haben sie nur ein Drittel der Produktivität eines Deutschen. Schon diese Aussage zeugt von der Arroganz und Anmaßung der deutschen Elite, wozu sich heute natürlich auch Politiker zählen.

Arbeiten bis zum Tod trotz Null-Aussicht auf Arbeit

Arbeiten bis 70, obwohl jedes Kind heute weiß, dass, wer die 40 überschritten hat, kaum noch adäquate Arbeit im Hightech-Land Deutschland findet, und das obwohl Deutschland doch an einem enormen Fachkräftemangel leidet. Tagtäglich tönt es aus den Medien, der Industrie fehlen adäquate Fachkräfte, Deutschlands Industrie wird bald nicht mehr konkurrenzfähig sein. Dass deutsche Produkte Angst vor Konkurrenz haben liegt nicht am Fachkräftemangel, es liegt vielmehr daran, dass wir auf Grund unseres Lebensstandards gar nicht mit Ländern wie China vergleichbar und deshalb auch nicht konkurrenzfähig sein können. Da können wir noch so viele Arbeitnehmer in prekäre Beschäftigungen drängen, am Ende schlägt es auf uns alle zurück. Wer nichts verdient, der kann auch nicht konsumieren, doch der Binnenmarkt ist wichtig und wird umso wichtiger je weiter sich Länder wie China entwickeln und autark werden. Hören wir auf einen Fachkräftemangel zu beklagen, nutzen wir stattdessen die vielen hochqualifizierten Arbeitnehmer über 45. Hören wir auf nur zum Wohle der Renditen, des Sharholder Values und des Exportwahns zu wirtschaften. Das so genannte Jobwunder ist eine Farce, es wird Zeit dass wir als Gesellschaft diesen Fehltritt rückgängig machen. Sind wir doch einmal ehrlich, wer von uns gut bezahlten Arbeitnehmern würde für 7 Euro die Stunde unter oftmals schwierigen Arbeitsbedingungen arbeiten. Abgesehen davon, dass wir mit unseren oftmals dekadenten Lebensstilen gar nicht davon leben könnten, stehen wir natürlich über den Billiglöhnern, Zeitarbeitern und Aufstockern. So wie wir gerade auf die Griechen und die ärmeren Länder der EU herabsehen und uns als deren Richter aufspielen, so machen wir es auch mit dem Teil der Bevölkerung, der arm, alt und pflegebedürftig ist.

Das Märchen vom Fachkräftemangel

Keiner, der noch Arbeit hat, kann sich die verzweifelte Suche nach würdevoller Arbeit auch nur ansatzweise vorstellen. Doch das Heer der Arbeitssuchenden über 40 wächst stetig, auch wir könnten morgen schon dazu gehören, Niemand ist vor der Gier nach Rendite sicher, deshalb lade ich sie ein, mich auf meiner kurzen Suche zu begleiten. Jeder der über 40 auf Arbeitssuche geht kennt die Probleme und vorgeschobenen Vorurteile, die Ignoranz und Überheblichkeit, die vielen bei der Suche nach Arbeit entgegenschlägt. Vor allem Deutschland hat ein Problem mit älteren Arbeitnehmern, ein Hohn, angesichts der Tatsache, dass wir zu einem der am schnellsten alternden Länder Europas zählen. Ein Blick auf unsere Gesellschaft und deren Umgang mit dem Alter macht klar, hier muss sich etwas ändern. Der in Politik und leider auch immer häufiger in den Medien so oft zitierte Mangel an Qualifikation spielt bei der Ablehnung eines Arbeitnehmers so gut wie keine Rolle. Vor allem die Älteren sind oft hochqualifiziert. Dennoch wird der Schrei nach Fachkräften in Deutschland immer lauter, erst kürzlich hat unsere verehrte Kanzlerin angekündigt, sich persönlich um dieses große Problem kümmern zu wollen. Der Fachkräftemangel, so Angela Merkel, ist ein Problem, dem wir ab sofort oberste Priorität einräumen. Schon deshalb sollten wir uns bei der Wahl gegen diese Option entscheiden. Wer Deutschland führen will, des muss sich für alle Menschen einsetzen, nicht nur für eine Wirtschaft, der jegliches Maß verloren gegangen zu sein scheint.

45+ Arbeitslose – gebildet und hochqualifiziert

Was die vielen bestausgebildeten Arbeitslosen 45+, deren Ausbildung vom Naturwissenschaftler bis zum Ingenieur reicht, zu diesem Populismus zu sagen haben, bleibt weitgehend im Dunkeln. Wer keine Arbeit hat, hat oft auch nichts mehr zu sagen. Industrie manipuliert Politik, Politik manipuliert Medien, deshalb begab ich mich für meine Geschichte an die Quelle, die Arbeitssuchenden selbst wollte ich zu ihrer Meinung zum aktuellen Arbeitsmarkt und ihren Erfahrungen mit Arbeitgebern befragen. Das Arbeitsamt – was für ein erschreckender Ort – aber auch das Internet boten einen reichen Fundus, der mich der Wahrheit zu Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel im reichsten Land Europas ein kleines Stückchen näher brachte. Auch wenn meine Befragung für eine repräsentative Umfrage eine zu geringe Stichprobe aufweist, so ist sie doch ein sehr bedenklicher Querschnitt durch unsere Bevölkerung. Viele Physiker, Chemiker, Elektrotechniker und Maschinenbauer jenseits der 40 gaben mir bereitwillig Auskunft, doch aufstehen und sich wehren, dazu sehen sich die meisten von ihnen aus den verschiedensten Gründen nicht in der Lage.

Einstellungsstop für 45+

Die Arbeitsagentur, so viele Betroffene, ist bei der Suche nach einer neuen Arbeit keine wirkliche Hilfe. Obwohl die Berater, wie könnte es anders sein, genau wissen, dass rund 50 Prozent aller Arbeitgeber keine Mitarbeiter über der magischen Grenze 45 einstellen, wird nichts dagegen getan. Sollten sie über 45 sein, vergessen sie ein Onlinebewerbung über ein Onlineformular, ihre Bewerbung wird nämlich nie ankommen. Oh Wunder, woran das wohl liegen mag. Ganz einfach, sobald die Datenbank ihr Geburtsdatum erkannt hat und dieses über 45 liegt, wird ihre Bewerbung ganz automatisch gelöscht. Das erstaunte auch viele Betroffenen, die zwischen drei und fünf Bewerbungen pro Woche schreiben, von denen rund 50 Prozent von den Arbeitgebern einfach ignoriert werden. 50 Prozent aller individuell verfassten Bewerbungen werden von Arbeitgebern also einfach ignoriert, obwohl diese eine Arbeitsstelle ja explizit ausschreiben und zur Bewerbung auffordern. Dies konnte ich kaum glauben, dachte an Übertreibung, Wut und Verzweiflung der Betroffenen. Andererseits waren viele dieser Arbeitssuchenden eher konservativ und meist wenig zu Übertreibung neigende Realisten. Da waren hochqualifizierte Mittfünfziger, die unverschuldet hochdotierte Arbeitsplätze verloren hatten, und nach längerer Arbeitslosigkeit dankbar für einen 400 Euro-Job sein mussten. Da gab es ausgebildete Elektroingenieure, die sich über ein bezahltes Praktikum freuen mussten und Mini-Jobber mit einem Doktortitel. Viele berichteten davon, nicht einmal bei 400 Euro-Jobs berücksichtigt worden zu sein, wobei gerade ihre frühere Führungsposition ein unüberwindbares Hindernis darstellte. Qualifikation und Selbstbewusstsein als Hindernis, was heute händeringend in Vorstandsetagen gesucht wird, kann einem Arbeitslosen zum Verhängnis werden. Ich war erschüttert, gleichzeitig wollte ich die Aussagen der Befragten überprüfen, sie quasi am eigenen Leibe erfahren. Also entschloss ich mich zu einem Selbstversuch. Über meine frustrierenden Erfahrungen lesen Sie im nächsten Teil.